WG74 – Briefnotizen und Briefentwurf an Alma Mahler
Wien nach Neubabelsberg im Zug oder in Neubabelsberg, Samstag, 17. oder Sonntag, 18. September 1910
[Briefnotizen]
Deine süße Schamhaftig-
keit bei Premieren
Die Melodien der
klingen heute
alle wieder in meinem
innern an, es ist
seltsam, wie solche Er-
innerungen plötzlich
ohne erkennbaren Grund
wieder auftauchen
Du Siegerin
Hausbauidee
Du hast mich eigent-
lich noch nie in nor-
malem Geisteszustand
kennen gelernt
Scherzl helle Bluse
___
Blinddarm
____
wann\s/ weiß
______
?
______
Hotel Paris?
_____
1. Brief n[ach] Wien
_____
war mißtrauisch
_____
Warum warst Du
neulich so verzwei-
felt
______
neulich Brief warum
geschrieben?
______
Chin.[esische] Jacke mitgenommen
[Briefentwurf]
Dein letzter Wink und Blick!
Wol verstanden. Du Siegerin!
Meine Welten waren versunken
und ein Bewußtsein beglückt
mich, ich habe keinen Augenblick
an Dir gezweifelt, alles hat
sich sofort gegen micht gekehrt
______
Meine Seele lege ich nackt
vor Deine Füße, jeglicher Verklei-
dung u Hülle bar.
________
Schreibe mir so oft Du kannst
u es für gut hältst, ich weiß, daß
von diesen Briefen mein \###/ Lebens-
glück abhängen wird.
_____
Ich würde mich für Dich töten
______
Warum konnte ich Dir das alles nicht
Aug in Auge sagen; es ging alles zu
furchtbar schnell
___
Du hattest recht, wohin wir leben
werden unsere Charaktere lehren.
Es ging alles so furchtbar
schnell, ich möchte die Sekunden
aufhalten
Ein so verworrenes Knäuel
an Empfindungen kann man
mit warten nicht entwirren.
x Das[s] ja das Nichtige alles
verflüchtige, glänze der Dauer-
stern, ewiger Liebe Kern.
Uns bleibt ein Erdenrest
Ich lese langsam jede Zeile
wieder und gedenke Deiner
Blicke! Werde jeder bessre Sinn
\Was ich Dir in den schrieb. Lies die
/
Schon als Knabe habe ich die
Frauen bewundert, wie viel herrischer
seid ihr als wir Männer
________
Frau Schu. Traum
____________
Du bist mir immer weit
voraus, was hast Du aus mir
gemacht in dieser kurzen Zeit
und was kannst Du noch aus
mir machen. Meine Geliebte, wir
erleben das allerhöchste, größeste [!]
Zusammen, was Menschen beschieden
werden kann
Es ist eine unsagbare Feier-
lichkeit in mir, alle meine
Bewegungen haben etwas getragenes
wie geht’s Dir
Mein Lebensglück
Nun ich von neuem weiß, daß Du
den Glauben an mich nicht verlierst,
ist es ein doppelt kostbarer Besitz.
Hat von meiner Reise nichts
gemerkt oder hast Du es ihm
gesagt.
_________
Z bi Doch das Gefühl, es ist Traurig-
keit darin. Meine gleich gestimmte
Seele fühlt die leisesten Erschütte-
rungen. Alles mir sagen, \habe den großen Wunsch/ will Dir
\Darf ich Dir auch als/ Freund sein Rat geben\etwas sein/, Geliebter
alles ein ganzes
Du wirst dann Wunder an mir
erleben
In Wahrheit
Auserwählten folge ich nach
u immer nach
\Vollenden das/ heilige Feuer in mir schüren
schon fühle ich
Ich gehe den Weg, wie aus Schmerzen
neues \schöneres/ Leben erblüht
Wie Du Deiner Musik folgst
u ohne zu klagen Dich opferst übermensch-
liche Opfer bringst
muß nicht auch ich an Deiner
Seite zum pater ecstaticus werden?
da πάντα ῥεῖ
Ich liebe ja doch \den Erdenrest/ Deine süße
irdische Menschlichkeit
Jeden Tag neues Werben
Apparat
Überlieferung
, , , , , , , , , .
Quellenbeschreibung
5 Bl. (5 b. S.) – Notizblock.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen:
Beantwortet durch AM35 vom Montag, den 19. September 1910 (Meine Liebe zu Dir und die Deine zu mir muss Dir eine Leiter hinauf in eine \unbegrenzte/ Ferne sein): Du bist mir immer weit voraus, was hast Du aus mir gemacht in dieser kurzen Zeit und was kannst Du noch aus mir machen.
Datierung
WG74 zeigt zwei verschiedene Entwurfsstadien eines Briefes von WG an AM. Der erste Entwurf ist größtenteils stichpunktartig verfasst, der zweite bereits ausführlicher. Verbindendes Element ist die starke inhaltliche Nähe, also Themen wie oder die Frage, ob etwas von WGs Reise nach München und Wien oder von WGs Brief an AM geahnt hätte. Aufgrund der Korrespondenzstelle kann AM35 vom Montag, den 19. September 1910 als direkte Antwort auf WG74 angenommen werden. Dabei ist nicht ganz klar, ab wann und vor allem wie lange sich WG nach der Münchner Uraufführung der von noch in Wien aufhielt und ob der vorliegende Entwurf demnach noch in Wien entstand. AM35 ist wieder nach Neubabelsberg adressiert, das heißt, falls WG sich noch in Wien aufhielt, trat er seine Rückreise wahrscheinlich am 17. oder 18. September an und schrieb den vorliegenden Entwurf entweder noch in der Bahn oder schon in Neubabelsberg. Hätte er sich bis zum 19. September in Wien aufgehalten, hätten die beiden sich zwei oder drei Tage nicht getroffen, obwohl sie sich am gleichen Ort aufhielten. Formulierungen wie Warum konnte ich Dir das alles nicht Aug in Auge sagen; es ging alles zu furchtbar schnell lassen vermuten, dass der Entwurf nach einem Treffen und als eine Art Abschied verfasst wurde, weshalb hier davon ausgegangen wird, dass WG Wien am 17. oder 18. September 1910 verließ und an einem oder an beiden Tagen WG74 verfasste.
Übertragung/Mitarbeit
(Bettina Schuster)
Conrad Hausbauidee – Hier handelt es sich möglicherweise um , Oberpräsident der Provinz Brandenburg – ein weitläufiger Verwandter, den für seine Idee bezüglich eines modularen Hausbauprogramms zu gewinnen suchte, das er zusammen mit entwickelt hatte, vgl. WG17 vom 25. Juli 1910.
Blinddarm – In WG93 vom spätestens 1. November 1910 heißt es: es wäre unrecht, wenn Du mir etwas verheimlichst, wie neulich die Blinddarmreitzung. Da sich in Briefen dazu nichts findet, musste die Information von ihr persönlich in Wien oder in München erhalten haben, wobei das Stichwort Blinddarm in diesem Entwurf vermuten lässt, dass ihm kurz zuvor in Wien davon berichtete.
Justi? – s. AM34 vom 12. September 1910: Gib mir vor \Fr./ Rosé acht!
Hotel Paris? – Offensichtlich hatte bereits zu diesem Zeitpunkt vor, über Paris in die USA zu reisen, und hatte dies in Wien persönlich mitgeteilt.
1. Brief […] G.[ustav] misstrauisch – s. WG72 vom 13. September an : Adresse in Wien. einen Brief soll sie vorfinden, gleich nach sehn, damit G.[ustav] ihn nicht findet.
Dein letzter Wink […] Du Siegerin! – Möglicherweise beschreibt hier die Abschiedsszene in Wien. Denkbar wäre jedoch auch eine Referenz auf einen wesentlich früheren Brief. In AM26 vom 27. August 1910 zitierte ein Telegramm von , in dem es hieß: alle guten und boesen Mächte begleiten mich – über allen thront die Siegerin.
Das[s] ja […] Erdenrest – Zitat aus dem zweiten Teil von , basierend auf Auszügen aus (zu den Textfassungen s. , S. 466–469). Siehe auch letztes Blatt dieses Entwurfs.
Werde jeder bessre Sinn – Originalzitat aus der , basierend auf Auszügen aus , fortgesetzt: „dir zum Dienst erbötig; | Jungfrau, Mutter, Königin, | Göttin, bleibe gnädig, bleibe gnädig, bleibe gnädig, bleibe gnädig!“ (zit. n. , S. 474).
Shakespeare […] Sonette – 1609 erstmals erschienener mit 154 Sonetten von . Möglicherweise handelte es sich um die von 1909, ein Buch, das auch in Die Zukunft von 1910 () rezensiert worden war – einer Zeitschrift, die las.
Frau Schu. Traum – Möglicherweise Referenz auf , die als Komponistin teilweise gemeinsam mit ihrem Ehemann bzw. unter seinem/beider Namen publizierte ().
pater ecstaticus – Figur im zweiten Teil von und in (Bariton).
πάντα ῥεῖ – panta rhei, altgriechisch: „alles fließt“.